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Interview Frau S. - Diagnose Anorexia nervosa

Ab welchem Punkt wurde Ihnen klar, dass Sie therapeutische Hilfe benötigen?
Der Zeitpunkt kam sehr spät. Ich hatte immer das Gefühl, es geht mir gut, obwohl ich wusste, dass mein Umfeld sehr darunter leidet. Immer habe ich mich zurückgezogen, war in meiner eigenen Welt, sodass ich nicht fühlen konnte, wie schlecht es mir wirklich geht. Alles wurde immer schwieriger, gesundheitlich ging es mir immer schlechter, bis ich nur noch einen Puls von 30-35 Schläge pro Minute hatte. Deshalb war ich oft im Spital zur Überwachung. Meine Eltern konnten meinen Gesundheitszustand nicht mehr verantworten, sie lebten tagtäglich mit der Angst mich zu verlieren. Obwohl ich mich damals bereits ambulant behandeln liess und regelmässig in der Ernährungsberatung war, konnte ich nicht erkennen, dass diese Krankheit tatsächlich ein Problem ist.

Was hat Sie in die Klinik Wysshölzli geführt?
Als Erstes war ich in einer Jugendpsychiatrie. Nach und nach konnte ich die Ziele nicht mehr erreichen und habe stetig abgenommen. Die Recherche meiner Eltern hat mich schlussendlich in die Klinik Wysshölzli geführt. Bereits bei meinem ersten Besuchstag hatte ich ein positives Bauchgefühl. Ich fühlte mich unterstützt, da ich wusste, dass es eine Fachklinik ist, die sicherlich speziell auf mich eingehen kann. Gefreut habe ich mich vor allem auf das Zusammenleben mit Menschen, die älter sind als ich. Der Umgang mit jüngeren und psychisch labilen Menschen hat mich bisher viel zu oft heruntergezogen.

Welche Ursachen führten zur Entwicklung der Essstörung?
Ich hatte immer das Gefühl von allen unterschätzt zu werden, was eindeutig die Ursache für die Krankheit war. Beim Hungern ging es bei mir nie um das Gewicht oder dass ich dünn sein wollte. Ich habe dünne Menschen nie als schön betrachtet. Ich war kurvig und hatte immer das Gefühl, dass die Unterschätzung mit meinem Körper zusammenhängt. Darum suchte ich etwas, was ich offensichtlich ändern konnte, um allen zu zeigen, was ich kann, mit der Absicht: ,,Ich kann hungern und ihr könnt es nicht’’. Egal was ich erreicht oder erlebt habe, ich hatte immer das Gefühl, es war für niemanden sichtbar. Sobald ich jedoch dünner wurde, sprachen die Leute über mich und sahen was ich ,,geleistet’’ habe. Damals brauchte ich diesen Schutz, der mir zum Hungern verhalf.

Welche Therapien unterstützten Sie am meisten?
Die Einzeltherapie und die guten Gespräche mit meiner Psychologin haben mich am meisten unterstützt. Viel gelernt habe ich besonders in der Ernährungstherapie und in der Kochgruppe. Ich konnte lernen, das zu essen, was ich selber gekocht habe - was ich zu Hause nie schaffte. Selber zu schöpfen empfand ich als unterstützendes Übungsfeld. Ich habe viel über mich persönlich gelernt. Dass ich sein kann, wie ich bin und nicht wie andere mich haben wollen. Seit dieser Erkenntnis fällt es mir viel einfacher zu essen.

Was denken Sie über unser Behandlungskonzept?
Obwohl ich das Konzept anfangs verflucht habe und mich mehrmals darüber aufgeregt habe, hat es mir sehr geholfen. Es brauchte seine Zeit zu verstehen, dass das Einnehmen von Kalorien in Ordnung ist. Ich habe sehr viel über den Umgang mit Lebensmitteln gelernt und habe eingesehen, dass das wahre Leben nicht nur aus eintönigem Essen, wie Magerjoghurt, besteht. Ich darf mir alles gönnen. In der Klinik herrschen ganz klare Strukturen, welche für den ganzen Therapieverlauf sehr unterstützend sind. Es zwingt einem die Kontrolle abzugeben. Für mein Krankheitsbild etwas vom Schwierigsten. Man hat das Gefühl, tief zu fallen. Sobald man gelernt hat, die Kontrolle abzugeben, strömt ein ungewohntes Gefühl von Entspannung durch einen hindurch. Das Behandlungskonzept der Klinik Wysshölzli betrachte ich aus meiner jetzigen, nüchternen Sicht als sehr unterstützend.

Was war Ihre grösste Herausforderung?
Das Schwierigste während des Klinikaufenthaltes war für mich die Erkenntnis, dass das eigentliche Problem nicht am Essen liegt. Jahrelang wollte ich meinem Umfeld immer alles recht machen. Ich habe mich immer von der starken Seite gezeigt, obwohl ich unglücklich und traurig war. Ich liebe meine Familie über alles und würde Ihnen nie etwas vorwerfen. Aber das Gefühl immer unterschätzt zu werden, hat mich krank gemacht. Heute bin ich meiner Krankheit dankbar - sie hatte grundsätzlich gute Gedanken, jedoch die falschen Mittel angewendet.

Haben Sie jemals daran gezweifelt, dass Sie es nicht schaffen könnten?
Ich habe oft daran gezweifelt, vor allem zu dem Zeitpunkt, als die Essanfälle begonnen haben. Auch deshalb, weil viele Personen aus meinem Umfeld nicht an einen Erfolg glaubten. Rückblickend haben mir diese negativen Gedanken Anderer geholfen. Heute bin ich froh darum, weil ich allen zeigen kann, was ich erreicht habe. Mir wurde bewusst, wie stark ich bin und was ich bewirken kann, wenn ich fest daran glaube.

Haben Sie sich während des Aufenthaltes verändert?
Definitiv. Aufgewachsen bin ich mit der Haltung mich anzupassen - wenn es für Andere stimmt, stimmt es für mich auch. Ich habe mich oft vergessen und meine Persönlichkeit immer als unwichtig betrachtet. Hungern war das Einzige bei dem ich zeigen konnte, dass ich einen Willen habe und nicht das mache, was die Anderen gerne hätten. Während des Klinikaufenthaltes habe ich gelernt, zu mir und meiner Meinung zu stehen. Ich bin stärker geworden und weiss nun, dass ich so sein darf, wie ich will. Dieser Einsicht bin ich unendlich dankbar.

Mit welchen Gefühlen verlassen Sie die Klinik?
Mit gemischten Gefühlen. Ich dachte oft an den Tag des Austritts und jetzt stehe ich unmittelbar davor - das macht Angst, aber die Freude überragt. Obschon ich die Krankheit schon vor einiger Zeit losgelassen habe, ist der Tag gekommen, wo ich endgültig die Seite umschlagen und ein neues Kapitel beginnen kann.

Was nehmen Sie mit?
Ich nehme viel Mut mit und gehe mit dem Wissen, dass ich den Weg nicht umsonst durchgemacht habe, obwohl es ein harter und steiler Weg war. Die Krankheit hat mich lange Zeit durch ein sehr tiefes Tal geführt und mir als Dank der Bekämpfung die Flügel der Freiheit geschenkt. Ich weiss nun, dass ich leben und fliegen kann wie ein Vogel und trotzdem stark bin wie ein Baum. In meinem neuen Lebensabschnitt wird viel Positives auf mich warten und darauf freue ich mich sehr.

Was können Sie anderen Betroffenen mit auf den Weg geben?
Wichtig ist, dass man das Gerüst der Kontrolle, das man lange glaubt, als alleinige Stütze zu haben, versucht loszulassen. Sich akzeptieren und lieben lernt. Und wenn man tief in sich hineingeht, sich öffnet, wird sich das Herz der Sonne zuwenden und automatisch warten die schönsten Dinge auf einem. Lebensziele erscheinen sowie das Fühlen von Freiheit und Liebe.

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