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Erfahrungsbericht Frau B. - Diagnose Alkoholsucht und Anorexie

Über Jahre hinweg habe ich mit meiner Alkoholsucht und meiner Anorexie gelebt. Selbst habe ich dabei keine Probleme erkannt. Es war mein Umfeld, welches mich auf mein angebliches Problem angesprochen hat: «Das machen wir nicht mehr mit» war ein Satz, den ich vermehrt zu hören bekam. Neben der Tatsache, dass sich schleichend körperliche Folgeschäden bemerkbar machten, waren es schlussendlich mein Mann und meine Schwester, welche mich für einen Klinikaufenthalt überzeugen konnten. Bereits der Eintritt in die Klinik Wysshölzli veränderte meine Sichtweise: Hier angekommen konnte ich vom ersten Tag an akzeptieren, dass ich ein Problem hatte. Irgendwie ist es mir gelungen zu realisieren, wieso ich eigentlich hier bin. Ängste und Unsicherheiten haben mich zwar noch lange begleitet, doch sie konnten durch das Personal aufgefangen werden. Dieses zeigte sich geduldig, kompetent und aufmerksam, was mir den Einstieg nicht leicht machte, aber erleichterte. Gleich zu Beginn wurde ich einerseits in die Therapiegruppe für Abhängigkeitserkrankte und andererseits in das Programm für Frauen mit Essstörungen zugewiesen. Schnell erkannte ich, dass sich die anderen Frauen hier ähnliche Verhaltensmuster angeeignet hatten wie ich: Lügen gehört zum Alltag von Essgestörten und von Süchtigen. Und das Lügen betrifft nicht nur das Umfeld; immer wieder hatte ich auch mich selbst belogen, um mein Verhalten vor mir zu rechtfertigen.

Parallel dazu, dass man hier lernt, solche Verhaltensmuster loszulassen, gewinnt man auch alte, positive Fähigkeiten wieder dazu. Der Alltag hier mit all diesen Menschen, die allesamt ihre eigenen Bedürfnisse und Geschichten mit sich tragen, ist zu Beginn sehr schwer. Mit der Zeit gewöhnt man sich aber daran und es entstehen gar Freundschaften. Nicht mit allen. Und ob sie über den Austritt hinaus bestehen werden ist unklar. Doch zweifellos wird man mit der Zeit Teil von diesem familiären Gemeinschaftsgefühl. Und die vielen Erfahrungsaustausche, teilweise unbewusst, teilweise gut getarnt und in ein Alltagsgespräch verpackt, konnten mir das ein oder andere positive Aha-Erlebnis bescheren. Innere Kontrolle und Macht. Insbesondere bei meiner Essstörung waren dies ganz zentrale Punkte meines vorherigen Lebens - entsprechend gross war die Angst diese Kontrolle abzugeben. Doch den Machtverlust braucht es, um gesund zu werden. Die Begleitung durch das Personal hier macht es möglich, ein Stück von dieser Selbstkontrolle abzutreten. Es fühlt sich zeitweise gar wie eine Entlastung an, die Verantwortung ein kleines Stück auch auf das Behandlungsteam zu übertragen: Die Angst aus eigenem Verschulden wieder «umzufallen» wird so kleiner. Man lernt hier, dass Fehler dazugehören. Sich verzeihen. Anderen Menschen verzeihen. Vergangenem verzeihen. Achtsamkeit. Achtsam sein auf sich selber oder auf die Natur. Die Sinne nutzen. Insbesondere die Therapien helfen einem deutlich dabei auf sich zu hören und zu lernen, dass diese Selbstkontrolle und Macht keine derart zentrale Rolle mehr zu spielen brauchen.

Während meinem Aufenthalt in der Klinik Wysshölzli habe ich mich als Mensch nicht sehr verändert. Mir macht heute immer noch Spass, was mir auch früher Spass gemacht hat. Was sich aber verändert hat, ist mein Denken. Es hat «Klick» gemacht während meiner Zeit hier. Entsprechend habe ich auch keine Angst vor meinem Austritt; ich freue mich sogar sehr darauf. Ich denke, dass ich alle Eventualitäten und möglichen Situationen für mich abgeschätzt habe. Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es wohl nie, aber ich bin guter Dinge, dass ich keinen Rückfall erleiden werde. Ich kann mit schwierigen Situationen viel besser umgehen und habe auch keine Angst davor, frühere Freunde zu treffen oder mich in einem Umfeld zu bewegen, in dem ich früher getrunken habe. Denn ich habe einerseits erkannt, was ich kaputt gemacht habe, andererseits aber auch, was mir alles noch geblieben ist. Ich habe erkannt, dass ich mich nicht mit meinem Suchtverhalten belohne, sondern mit meinem neuen Lebensabschnitt: Integration, Lebensqualität aufrechterhalten oder erlangen, Lebensfreude wiederentdecken, ein inneres Gleichgewicht finden. Dies sind Stichworte, die mich je länger je mehr beschäftigt haben.

Schlussendlich will ich hier nicht nur «rauskommen», ich will Träume und Visionen weiterverfolgen können. Und ich will den Glauben an mich selbst weiterentwickeln. Das Behandlungskonzept hier hat mich sehr überzeugt. Es ist durchdacht und das Team ist sehr eingespielt und erfahren. Doch zu Beginn machen einem die Regeln zu schaffen. Einige versteht man nicht, andere empfindet man als mühsam oder sogar als Schikane. Erst nach einer gewissen Zeit machen sie plötzlich Sinn. Ich habe hier viel über Strukturen gelernt: Bis anhin war mein Leben eher chaotisch und unstrukturiert. Weiter realisiert man, dass man Leerzeiten, welche einigen zu Beginn als langweilig erscheinen, zum Reflektieren braucht. Man lernt die Therapie und das Angebot «zu nutzen und nicht auszunutzen».

Die grösste Herausforderung beim Klinikeintritt waren aber nicht die Regeln oder Leerzeiten, sondern die Erkenntnis, dass man jetzt aktiv werden muss. Wenn man mit der Einstellung eintritt, «die werden das schon für mich richten», hat man meiner Meinung nach schlechte Erfolgsaussichten. Man muss sich aktiv an seinem Heilungsprozess beteiligen und den Willen aufbringen, wirklich etwas zu verändern. Egal ob man zehn Jahre oder ein Jahr abhängig war. Wichtig ist wahrscheunlich die Intensität der Abhängigkeit und ob man wirklich die Motivation hat etwas zu verändern. Das ist entscheidend dabei, wie die Prognose für den Austritt aussieht. Dieser Wille ist für mich unglaublich zentral. Würde ich nach meinem Austritt jemandem begegnen, der sich ins selbe Fahrwasser begibt wie ich damals, dann würde ich unter Umständen sehr zurückhaltend reagieren. Unbedingt möchte ich jedem diese Erfahrungen ersparen und helfen wollen. Doch ich würde wohl neutral bleiben aus Angst eine Trotzreaktion hervorzurufen. Vielmehr würde ich versuchen ein positives Verhalten vorzuleben. Ich jedenfalls bin zwar dankbar um die Zeit hier in der Klinik Wysshölzli, freue mich aber sehr auf mein Leben zu Hause, welches jetzt neu anfängt.

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