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Erfahrungsbericht Frau T. - Diagnose Anorexie

Den ersten Schritt - den schwierigsten - hatte ich geschafft. Es war die bittere Erkenntnis, dass ich Hilfe in Anspruch nehmen muss. Die Diagnose: Anorexie – ich hatte mich ganz alleine in diese Situation gebracht, jedoch schaffte ich den Weg aus dem Teufelskreis nicht mehr alleine. Eine stationäre Behandlung war demnach nicht mehr zu verhindern. Ich war von Anfang an motiviert, vor allem übermotiviert und wollte die Klinik schnellst möglichst wieder „gesund“ verlassen. 12 Wochen soll eine Therapie dauern... „bleiben wir doch realistisch – in 6 Wochen bin ich wieder zu Hause und kann seriös arbeiten“ so lauteten meine Gedanken ursprünglich. Die Taktik eine geplante Therapie von Anfang an um ein paar Wochen zu reduzieren war sinnlos und überflüssig. Ich habe mich selber zeitlich unter Druck gesetzt und wurde aufgrund des „leeren“ Termin/Therapieplans unzufrieden. Aber nicht nur das sollte zum Problem werden. Das Gefühl der Entmündigung, das Zusammenleben mit anderen Patientinnen, die angespannte Stimmung im Speisesaal: Es kamen viele neue Situationen auf mich zu. Ich wurde regiert. Ich hatte mich an deren Regeln zu halten und musste für alles Rechenschaft ablegen. Die Mischung des vermeintlichen „Menschlichkeitsverlusts“ und des persönlichen Zeitdrucks waren anfangs nicht gerade förderlich. Nach 4 Wochen konnte ich trotz Gewichtszunahme immer noch keinen persönlichen Fortschritt erkennen, nicht gerade befriedigend wenn man einen klaren Zeitplan im Kopf hat. Ich erwartete das Zurückerlangen von Verantwortung, also indirekt wollte ich wieder über mich selber bestimmen und mich kontrollieren können. Dies wurde mir jedoch so schnell nicht erlaubt - Gott sei Dank. Bis zu einer entscheidenden Einsicht: „wie will ich mich von meinem gestörten Essverhalten, welches sich über mehrere Monate, sogar Jahre entwickelt hatte, in einer so kurzen Zeit befreien? Die 12-wöchige Basistherapie könnte doch vielleicht sinnvoll sein“. Diese Feststellung, sowie das Abgeben der kompletten Verantwortung und Kontrolle bei Klinikeintritt war meine persönliche Erlösung. Die Gedanken nicht mehr andauernd den Nahrungsmitteln und der Tagesplanung mit Arbeit und Sport widmen zu müssen. Endlich wurde ich von diesen fesselnden Gedanken, welche in meinem Kopf sehr viel Raum in Anspruch genommen hatten und mich unbewusst in den Wahnsinn trieben, befreit. Es war eine Erleichterung und zugleich die Entdeckung, dass es auf dieser Welt andere Beschäftigungsmöglichkeiten gibt. Die dunkle Wolkendecke über mir riss auf und im lichterfüllteren Horizont eröffnete sich ein Freiraum für andere Sachen, Unbekanntes, sogar die Möglichkeit zum Neustart. Körpertherapeuten und Kunsttherapeuten investierten von Beginn an viel Zeit mir die Welt vom Malen, Gestalten und der Körperwahrnehmung näher zu bringen. Anfangs erinnerte es mich jedoch an meine Kindergartenjahre, umringt von Buntstiften, Papier und einem Haufen Bastelmaterial. Es war sehr beschämend für mich, da meine bisherigen persönlichen Ansprüche im Leben doch etwas höher waren als Malen und Basteln. Wahrscheinlich auch, weil ich in diesem Bereich absolut untalentiert zur Welt gekommen bin und an diesem talentfreien Status hatte sich auch bis zum Austritt leider noch immer nichts geändert. Aber auch diese Erkenntnisse, dass es kein Talent braucht, dass das Resultat nicht perfekt sein muss, dass eine kreative Beschäftigung ohne künstlerischen Anspruch ausreichend sein kann, waren wertvoll. Vor allem in den ersten Wochen war es eine Herkules-Aufgabe tagsüber, bei Sonnenschein, nicht irgendwo in der Natur sportlich unterwegs zu sein, sondern sich „faul“ und vermeintlich „niveaulos“ zu beschäftigen. Doch genau diesen Leerlauf über Wochen brachte den Wendepunkt. Die täglich regelmässig zugeführte Energie ermöglichte es mir wieder zu funktionieren, ich fühlte mich kräftiger. Ich entwickelte mich körperlich und geistig erneut zu einem Wesen, das man innerlich und äusserlich als Mensch betrachten konnte. Mein Drang zur Bewegung wurde im Verlauf der Therapie bedeutend kleiner. Bei positivem Gewichtsanstieg wurde meine körperliche Bewegungsfreiheit, ursprünglich doch recht eingeschränkt, wieder ausgebaut, ich bekam stufenweise Verantwortung zurück. Ich konnte selber Entscheidungen bezüglich Essen und Bewegung treffen und so kam ich Schritt für Schritt meinem Ziel näher. Nach 12 Wochen hatte ich Vieles wieder zurück was mir anfangs genommen wurde, ich schnupperte bereits die Luft der realen Welt und Normalität, des Arbeitsplatzes, nur eins fehlte: das Gefühl des Bestehens ausserhalb der strukturierten Therapiewelt. Zweifel und Unsicherheit führten zum undenkbaren und für unmöglich gehaltenen Szenario: einer Verlängerung. Weitere 6 Wochen ermöglichten mir so das „Gelernte“ der Basistherapie zu stabilisieren und täglich unter Aufsicht (bei Bedarf) zu praktizieren. Ich kann für mich persönlich von einem zufriedenstellenden Therapieverlauf reden. Schlussendlich kann ich die ursprünglich stark angezweifelte Aussage „ alles Negative hat auch was Positives“ doch bestätigen und so ergibt irgendwie alles einen Sinn, mal mehr, mal weniger.

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